SS-Standartenführer
alias Sawade Fritz Dr.
* 25.04.1902 in Forst (Lausitz)
† 13.02.1964 im Zuchthaus Butzbach (Freitod)
Sohn eines Tuchfabrikanten
Herbst 1914
Umzug der Familie nach Cottbus
Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg
ab Sommer 1918 bei der Gruppenfernsprechabteilung 656 in Reval in Estland
November 1918 bis Anfang 1919
Angehöriger eines Freikorps in Estland
März 1920
Abitur (Klassenbester)
ab Mai 1920
Medizinstudium in Berlin, Freiburg, Marburg, Rostock u. Würzburg
Juli 1922
Physikum in Marburg
Mai 1925
Promotion (Doktor) in Würzburg (mit sehr gut)
Medizinalpraktikant an den städtischen Krankenanstalten in Cottbus, den Wittenauer Heilstätten in Berlin und der Würzburger Universitätsnervenklinik
08. Juni 1926
Approbation
Hilfsassistent bei Martin Reichardt in Würzburg
00.11.1928-1930
am chemischen Institut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München
Habilitation in Würzburg
(Habilitationsschrift "Untersuchungen über Gehirnfermente")
Februar 1931
Er heiratet Erika Precht
(Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor)
Juli 1931
planmäßiger Assistent an der Würzburger Universität (Nervenklinik)
ab 10. August 1932
Privatdozent an der Würzburger Universität
März 1933
Heyde lernt den SS-Oberführer Theodor Eicke kennen
(Eicke war auf Veranlassung des Gauleiters der bayerischen Pfalz, Josef Bürckel, zur Untersuchung seines Geisteszustands in die Würzburger Klinik eingewiesen worden. Heyde, mit einem amtsärztlichen Gutachten beauftragt, sah keinerlei Anzeichen von Geistes- oder Gehirnkrankheit bei Eicke. Im Gegenteil, so Heyde in einem Schreiben an Heinrich Himmler, Eicke habe sich „hier musterhaft geführt und fiel durch sein ruhiges, beherrschtes Wesen sehr angenehm auf, er machte keinesfalls den Eindruck einer intrigierenden Persönlichkeit.“ Dieses Schreiben Heydes, das maßgeblich zu seiner Rehabilitierung beigetragen haben dürfte, eröffnete Eicke eine steile Karriere.)
00.05.1933
Eintritt in die NSDAP (Mitglieds Nu. 3 068 165)
(auf Empfehlung Eickes)
am 1. April 1934
zum Oberarzt der Universitätsnervenklinik und Leiter der angeschlossenen Poliklinik in Würzburg befördert
Oktober 1934 bis Mai 1936
Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes Würzburg
Parallel dazu entschied er als Beisitzer im dortigen Erbgesundheitsgericht über Anträge auf Zwangssterilisationen
(letzter bekannte Dienstgrad: Kreisamtsleiter)
1936 reicht er dem Sterilisierungsexperten Gütt eine Denkschrift ein, um die Praxis der Erbgesundheitsgerichte zu verbessern. Gütt möchte den karrierebewussten Oberarzt gern als Oberregierungsrat einstellen. Im Gespräche mit Gütt erwähnt Heyde auch den Fall Eicke, wohl nicht ganz absichtslos, denn dieser ist mittlerweile SS- Brigadeführer, Chef aller Konzentrationslager und Führer der SS- Totenkopfverbände (also doch gemeingefährlich). Gütt ruft sogleich den Reichsarzt der SS, Ernst Grawitz, an. Grawitz, Eicke und Heyde treffen sich. Grawitz unterbreitet Heyde, doch in die Waffen- SS einzutreten. In den Konzentrationslagern sei im Blick auf das Sterilisierungsgesetz ein ärztlicher Dienst aufzubauen, und der große Anteil an Berufs- und Sittlichkeitsverbrechern biete ein wunderbares wissenschaftliches Forschungsmaterial.
01.06.1936
Eintritt in die SS (Mitglieds Nu. 276 656)
(als Hauptsturmführer)
Führer der Sanitätsabteilung der SS-Totenkopfverbände / KL
(„Leiter der psychiatrischen Abteilung beim Führer der SS-Totenkopfverbände / Konzentrationslager“)
1938
Führer im Stab SS-Hauptamt (SS-Sanitätsamt) u. beim Inspekteur der Konzentrationslager
01.01.1939
Auszug aus seinem Lebenslauf (anlässlich seines Antrages auf Ernennung zum außerplanmäßigen Professor)
„Im Jahre 1936 wurde ich, obwohl nicht SS- Angehöriger, vom Reichsarzt SS und Chef des SS- Sanitätsamtes dringend aufgefordert, die psychiatrisch- neurologische und erbbiologische Überwachung der Konzentrationslager einzurichten und zu leiten und eine psychiatrisch- neurologische Gutachtertätigkeit für das Geheime Staatspolizeiamt Berlin zu übernehmen. Ich hielt es für meine Pflicht, mich für diese dringliche und wichtige Tätigkeit zur Verfügung zu stellen, obwohl ich mir bewusst war, dass damit und mit meinen rein dienstlichen Verpflichtungen in der Klinik meine Arbeitskraft restlos in Anspruch genommen und die eigene wissenschaftliche Betätigung für längere Zeit aufgeschoben werden würde. – Ich habe dann in den Jahren 1936 und 1937 regelmäßig 2- 3 Tage in der Woche als SS- Hauptsturmführer im SS- Hauptamt und im Stabe des Inspekteurs der Konzentrationslager und Chefs der Totenkopfverbände dafür verwendet, die psychiatrisch- neurologische und erbärztliche Kontrolle der Schutzhäftlinge einzurichten und zunächst auch ganz allein praktisch in Berlin und an den Standorten der einzelnen Konzentrationslager durchzuführen, da diese Aufgabe angesichts der psychischen und körperlichen Minderwertigkeit des weitaus größeren Teils der Lagerinsassen ganz besonders vordringlich war. Weiterhin war ich im wechselnden Ausmaß als Obergutachter für die kasernierten SS- Truppen tätig und schließlich nahezu ein Jahr auch beratender Facharzt im SS- Lazarett in Berlin. Auf meine Tätigkeit als Gutachter für das Geheime Staatspolizeiamt Berlin kann ich naturgemäß nur hinweisen. Es handelt sich hier um zumeist ungewöhnlich schwierige Begutachtungen, die teilweise meine ganze Arbeitskraft auch zeitlich voll in Anspruch genommen haben.“
05. April 1939
Ernennung zum außerordentlichen Professor
Juli 1939 bis 31.12.1941
Medizinischer Leiter von T4
(Tarnungskürzel für die Zentraldienststelle der Kanzlei des Führers in der Berliner Tiergartenstraße 4, die den Massenmord an Behinderten (»Euthanasie«) organisierte.) T4-Ärzte, darunter Heyde und Schumann, bereisen ab Frühjahr 1941 die Lager, um unerwünschte Häftlinge in die T4-Gaskammern zu selektieren.
24. Oktober 1939
ein SS-internes Untersuchungsverfahren gegen Heyde wird eingestellt
(Anschuldigungen, Heyde habe homosexuelle Handlungen begangen, hätten sich als unrichtig erwiesen)
1. Dezember 1939
Mit Wirkung zum 1. Dezember 1939 wurde Heyde Nachfolger Martin Reichardts auf dem Würzburger Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie.
Ordinarius in Würzburg
30.01.1941
Beförderung zum SS-Sturmbannführer
Ab November 1941 war Heyde zudem Leiter eines SS- Lazaretts für Hirnverletzte, das der Würzburger Klinik angegliedert war. Zwischen April 1943 und März 1945 bestand in der Klinik ein Außenlager des KZ Flossenbürg, als dessen „Initiator“ Heyde gilt. Die bis zu 58 Häftlinge des Außenlagers waren mit Bauarbeiten im Klinikbereich beschäftigt. Nach einem schweren Luftangriff auf Würzburg wurde das SS- Lazarett im März 1945 nach Dänemark verlegt und unter Heydes Leitung in Gråsten neu errichtet.
Dezember 1941
Werner Heyde übergibt die Leitung der Aktion T4 an Paul Nitsche
(Nach Aussagen von Hans Hefelmann hatte Reinhard Heydrich die Ablösung Heydes verlangt, da Heyde homosexuell sei. Bei Vernehmungen gestand Heyde „Erlebnisse auf homosexuellem Gebiet“. In der zur Geheimen Reichssache erklärten Angelegenheit empfahl Himmler Heydrich ein Verbleiben Heydes in der SS: „Ich möchte eigentlich den Professor nicht entlassen. Ich glaube, er ist sehr verständig und wirklich völlig gerettet.“)
1942 war Heyde an der Tötung des polnischen Zwangsarbeiters Rostecki beteiligt: Das Reichssicherheitshauptamt hatte am 22. Juni 1942 die Exekution Rosteckis angeordnet. Heyde hatte die Würzburger Staatspolizei zuvor aufgefordert, den Patienten seiner Klinik abzuholen, da diese keine Bewahranstalt für „andersstämmige Untermenschen“ sei. Eine Tötung Rosteckis in der Universitätsklinik lehnte Heyde ab, versprach der Polizei aber Hilfe bei der Ermordung. Rostecki starb im Juli 1942 auf dem Weg nach Nürnberg
November 1942
Leiter des psychiatrisch-neurologischen SS-Lazaretts Würzburg
20.04.1943
Beförderungzum SS-Obersturmbannführer
21.02.1944
Heyde erhält den SS-Totenkopfring
20.04.1945
Beförderung zum SS-Standartenführer
Heyde wurde 1945 kurz vor Kriegsende mit seiner Würzburger SS Lazarettabteilung nach Gråsten/Dänemark verlegt und geriet dort in britische Gefangenschaft. Bis 1947 wurde er in den Civil Internment Camps Neumünster Gadeland und Eselsheide bei Paderborn festgehalten.
1947 sollte Heyde im Nürnberger Ärzteprozeß als Zeuge aussagen. Auf dem Transport nutzte er die Unachtsamkeit des Wachpersonals und floh. In Kiel verschaffte er sich auf dem Schwarzmarkt falsche Papiere auf den Namen Dr. Fritz Sawade, arbeitete ein Jahr als selbstständiger Gärtner in Mönkeberg
Ende 1949
Anstellung als Sportarzt in Flensburg
Am 28. Mai 1945 wurde Heyde vom britischen Militär im Lager Fårhus in Dänemark interniert.
Am 9. Oktober 1945 wurde er zunächst nach Neumünster-Gadeland, dann im Juli 1946 in das Internierungslager Eselheide bei Paderborn überführt. Während der Internierung lernte Heyde mehrere Personen kennen, die ihm später beim Untertauchen in Schleswig-Holstein behilflich waren.
Am 13. Februar 1947 wurde Heyde der deutschen Justiz überstellt, zuvor hatte das Landgericht Frankfurt am Main Haftbefehl gegen ihn erlassen. Anfang April 1947 wurde Heyde nach Nürnberg überführt, denn die Verteidigung im Nürnberger Ärzteprozess hatte ihn als Entlastungszeugen angefordert. Im Laufe dieses Verfahrens wurde Heyde durch Zeugen und Dokumente schwer belastet. Zu einem Auftritt Heydes als Zeuge im Ärzteprozess kam es jedoch nicht. Auf dem Rücktransport nach Frankfurt sprang Heyde am 25. Juli 1947 in Würzburg von einem fahrenden Militärlastwagen. Die nächsten zwölf Jahre konnte Heyde untertauchen. Nach eigenen Angaben kam er zu Fuß oder per Anhalter nach Schleswig-Holstein, wo er zunächst als selbstständiger Gärtner in Mönkeberg bei Kiel, dann als Landarbeiter bei verschiedenen Bauern arbeitete. Mit Hilfe gefälschter Entlassungspapiere als Kriegsheimkehrer erhielt Heyde offizielle Ausweise auf den Namen Fritz Sawade. Als Geburtsort gab er das östlich der Neiße liegende Triebel an, womit die Nachprüfung seiner Angaben zur damaligen Zeit nahezu unmöglich war.
1948 nahm Heyde wieder Kontakt zu seiner Familie auf, die später in Bayern lebte. Seine Frau, Erika Heyde, erhielt ab 1952 Versorgungsbezüge, da ihr Mann nach ihren Angaben verschollen sei. Wegen Betruges wurde sie deswegen 1962 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Ende 1949 erhielt Heyde unter seinem Falschnamen Dr. Fritz Sawade eine Anstellung als Sportarzt in Flensburg.
1950 wurde er Sportarzt an der Landessportschule Flensburg-Mürwik. Dann lernte Heyde, nunmehr Sawade, den Direktor des Oberversicherungsamtes Schleswig, den späteren Präsidenten des Landessozialgerichts kennen und schätzen: Dr. Ernst-Siegfried Buresch. In den folgenden Jahren durfte er Fachvorträge halten und war im übrigen Schleswig-Holsteins meistgefragter Gutachter: beim Oberversicherungsamt, bei dem Landesentschädigungsamt in Kiel, bei der Flensburger Staatsanwaltschaft, bei Gerichten, Versorgungsämtern und Berufsgenossenschaften. Insgesamt erstattete er an die 7000 schriftliche Gutachten. Seine Gutachtertätigkeit war so einträglich, daß er ein Haus erwerben und Kraftfahrzeuge halten konnte, zuletzt einen "Borgward Isabella TS" aus der gehobenen Preisklasse.
1954 fühlte sich der Professor Creutzfeldt verletzt, weil der Flensburger Dr. Sawade gewagt hatte, einem von ihm Creutzfeldt, erstatteten Gutachten scharf zu widersprechen. Der Professor schrieb an den Präsidenten des Sozialgerichts Schleswig: "In der dem Gutachten Bossen beigefügten Anlage habe ich einen kurzen Bericht über die Person des unter dem Namen Sawade als Gutachter... tätigen Dr. Heyde niedergelegt."
Und: "Ich sehe mich zu diesem Bericht genötigt, weil der Genannte gegen die Gutachten, die von mir und meinen Ärzten erstattet waren, in einer Form aufgetreten ist, wie sie mir in meiner 40jährigen Gutachter-Tätigkeit in Breslau, Berlin, Kiel nicht begegnet war."
Diesen Angriff konnte Buresch gerade noch abfangen. Er schickte Creutzfeldts Auslassung an den Absender zurück, da er als Präsident eines Gerichts, "das besonders eng mit dem Ärztestand verbunden" sei, es nicht als seine Aufgabe ansehen könne, "einen für das Ansehen des Ärztestandes ... möglicherweise recht folgenschweren Schritt zu tun".
Was Creutzfeldt mißlungen war, gelang, fünf Jahre später, dem Kieler Internisten Reinwein, der mit der Landesregierung in Fehde lag. Nach Reinweins Meinung unternahm die Regierung nicht genug, um die Professoren-Wohnung gegen nächtliche Lärmbelästigungen abzusichern. Der Ministerpräsident schickte den Ministerialdirektor a. D. Delbrück, um die Sache ins reine zu bringen. Und der Professor schimpfte über dies und das - auch über den falschen Gutachter Sawade.
Delbrück anschließend zu dem Chef der Gesundheitsabteilung im Innenministerium, Ministerialrat Dr. Heigl: "Reinwein hat wieder etwas Neues. Jetzt behauptet er, in Flensburg sitze ein Mann, der mache Gutachten für das Landessozialgericht und führe einen falschen Namen."
Heigl erkundigte sich und ließ über den Amtsarzt in Flensburg Sawades Approbation anfordern. Das war am 4. November 1959.
Sawade fuhr sofort nach Würzburg. Er beriet sich dort mit Kollegen, wie man auf Professor Reinwein einwirken könne, die Äußerungen zurückzunehmen.
Inzwischen aber hatte - am 5. November 1959, "kurz nach Dienstbeginn" der Regierungsoberinspektor Koch beim Durchblättern eines Buches den Namen Heyde erspäht: in "Medizin ohne Menschlichkeit - Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses" von dem Heidelberger Professor Alexander Mitscherlich. Er unterrichtete "unter Vorlage dieser Broschüre gegen 9.00 Uhr" den Dr. Heigl. Die bundesweite Fahndung lief an.
Sawade las davon - und gab das Rennen auf: Heyde stellte sich der Staatsanwaltschaft in Frankfurt, die nun - zwölf Jahre nach der Ausstellung - den alten Haftbefehl zum zweitenmal an ihm vollstreckte.
Schon rasch nach seiner Verhaftung stellte sich heraus, dass etliche Juristen und Mediziner in Schleswig-Holstein Kenntnis von der Identität Fritz Sawades mit dem per Haftbefehl gesuchten Werner Heyde hatten: So hatte der ehemalige Kieler Professor für Neurologie und Psychiatrie, Hans-Gerhard Creutzfeldt, im Dezember 1954 den Präsidenten des Landessozialgerichts in Schleswig schriftlich auf die Identität aufmerksam gemacht. Der Gerichtspräsident reichte Creutzfeldt das Schreiben zurück, ohne gegen Heyde vorzugehen. Auch Creutzfeldt unterließ es, seine Kenntnisse den Fahndungsbehörden mitzuteilen. 1961 konnte ein Untersuchungsausschuss des Kieler Landtags 18 Spitzenbeamten und Personen des öffentlichen Lebens diese Kenntnis nachweisen. Der Kreis derer, die von entsprechenden Gerüchten wussten, dürfte weitaus größer gewesen sein: Zu sehr klafften die Legende vom „einfachen Nervenarzt Dr. Sawade“ und Heydes Kenntnisse und Fähigkeiten auseinander. Parallel zur Arbeit des Untersuchungsausschusses wurden gegen mehrere von Heydes Mitwissern Ermittlungsverfahren wegen Begünstigung eingeleitet, die aber in keinem Fall zu strafrechtlichen Konsequenzen führten.
Die Ermittlungen gegen Heyde übernahm die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft unter Fritz Bauer. Bis Mai 1962 wurde eine umfangreiche Anklageschrift erstellt, die die Aktion T4 rekonstruierte und später eine wichtige Grundlage der historischen Forschung zur NS-Euthanasie wurde. Heyde wurde angeklagt, „heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben“. Die Eröffnung des Prozesses gegen Werner Heyde und die Mitangeklagten Gerhard Bohne, Hans Hefelmann und Friedrich Tillmann vor dem Limburger Landgericht war für den 18. Februar 1964 angesetzt.
Häufig konferierte der Gefangene mit seinen beiden Frankfurter Anwälten Schindler und Schmidt-Leichner, schrieb seiner - in einem mit unrechtmäßig bezogener Witwenrente bezahlten Haus - am Starnberger See lebenden Frau kurze und seinen beiden Söhnen lange Briefe. Den Staatsanwälten des Dr. Fritz Bauer hingegen machte er schon seit 1960 keine Angaben mehr: Ihr Chef sei nicht objektiv.
13.02.1964 Zuchthaus Butzbach
Genau 30 Minuten nach 7 Uhr schabte Heyde Werner der Rasier-Kalfaktor die Stoppeln vom gelbbraunen Gesicht.
Der Häftling war ruhig. Punkt 9 Uhr gab ihm der Anstaltssanitäter Merdes die verordneten Beruhigungstabletten - aufgelöst, wie vorgeschrieben. Der Gefangene machte konventionelle Bemerkungen, bat um ein Bad und um eine Unterredung beim Direktor.
Zehn Minuten später, um 9.10 Uhr, fand ihn der aufsichthabende Hauptwachtmeister Diebel an der Heizung hängend, den Unterkörper flach auf dem Zellenboden, stranguliert. Gegen Mittag wurden die Wiederbelebungsversuche eingestellt.
„Vor Gott trete ich gefaßt und unterwerfe mich seinem Spruch. Ich habe nichts Böses gewollt, soweit ich dies als Mensch zu beurteilen vermag. Er wird entscheiden.“ Mit diesen Worten endet der neunseitige Abschiedsbrief Heydes, in dem er seinen Selbstmord mit „Selbstachtung und Protest“ begründete.
Hessens Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im ersten Schock nach der Meldung aus Butzbach über Heydes Selbstmord: "Es besteht der Verdacht einer stillschweigenden Übereinkunft der Beteiligten, diesen Prozeß nicht stattfinden zu lassen."
Später stellte der Parlamentarische Untersuchungsausschuß fest, daß wenigstens folgende Personen von der Identität des Gutachters Sawade mit Hitlers Obergutachter Heyde gewußt hatten: Dr. Buresch, Professor Creutzfeldt, Medizinaldirektor Delfs, Professor Doerr Sozialgerichtsdirektor Gerstenhauer, Professor Glatzel, Professor Hallermann, Dr. Knolle, Regierungsrat Lauersen, Senatspräsident Meisterernst, Senatspräsident Michaelis, Obermedizinalrat Ostertun, Professor Reinwein, Obermedizinalrat Rischer, Landgerichtsrat Schlüter, Bundesrichter Sonnenberg, Frau Dr. Spallek, Sozialgerichtsrätin Frau Stumpf.
Heyde stand mit Personalbeschreibung und Bild in Fahndungsbuch und Bundeskriminalblatt: "Wegen Mordes gesucht ..." Zu seiner Festnahme führten jedoch weder kriminalpolizeiliche Tüchtigkeit noch der direkte Hinweis eines der Eingeweihten.
Heydes Nachkriegstätigkeit unter dem Namen Dr. Fritz Sawade wirft Licht auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den 50er Jahren und die weit verbreitete Bereitschaft, einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zu ziehen: In Flensburg war es „praktisch allgemein bekannt, insbesondere in ärztlichen Kreisen, daß der Name Dr. Sawade ein Pseudonym war. Wenn der Name Sawade genannt wurde, zwinkerte man mit den Augen und schwieg“, so später einer der Mitwisser Heydes, Professor Glatzel. Einem anderen Mitwisser wäre es wie „Vertrauensbruch“, wie „glatte Denunziation“ vorgekommen, das eigene Wissen über den untergetauchten Kollegen den Behörden zu offenbaren. Nach Heydes Verhaftung wurde dieses Verhalten thematisiert, aber auch beklagt, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Verhalten in der Ärzteschaft ausblieb.
In seinem Abschiedsbrief äußerte sich Heyde zu seiner Beteiligung an der Aktion T4 und seinen Motiven: „Ich habe mich zur Euthanasie nicht gedrängt. Den in den Anfangsbesprechungen versammelten Professoren, Anstaltsdirektoren und sonstigen Psychiatern wurde klar, daß die Euthanasie so oder so durchgeführt werden würde. Niemals, das versichere ich feierlich angesichts des Todes, handelte es sich für uns beteiligte Ärzte um die Beseitigung unnützer Esser, wie man es jetzt darzustellen beliebt, niemals auch nur um lebensunwertes Leben, wie Binding-Hoche es nannten, sondern um sinnloses Dasein von Wesen, die wie bei der von mir nicht zu vertretenden Kindereuthanasie entweder nie Mensch werden konnten oder denen wie bei den Erwachsenen das spezifisch Menschliche unwiderbringlich verloren gegangen war und die – mag man Gegenteiliges behaupten soviel man will – oft genug unter unwürdigen Bedingungen ihr Dasein fristeten. Ich kann weder mich noch die anderen beteiligten Ärzte als schuldig im juristischen Sinne ansehen.“
Zu einer anderen Einschätzung von Heydes Motiven kamen die beiden Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses im Kieler Landtag, Paul Rohloff und Heinz Adler, nachdem sie Heyde in der Untersuchungshaft besucht hatten: „Von einem Schuldbewußtsein könne bei Heyde nicht die Rede sein. Er sei ein ehrgeiziger und außerordentlich geltungssüchtiger Mensch, dem seine Karriere wahrscheinlich über alles gegangen sei.“
Der Untersuchungsausschuss wurde im Dezember 1959 eingesetzt, um zu untersuchen, wie es möglich sein konnte, dass Werner Heyde über so lange Zeit unentdeckt bleiben konnte. Der Abschlussbericht im Juni 1961 nennt 18 Namen von Personen, die Heydes wahre Identität gekannt hatte, darunter Professoren, Richter und Beamte. Der Landtag verabschiedete einstimmig eine Erklärung, in der er verlangte, dass „diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, die die Unrechtstäter decken“.
Nachwirkung
Unter dem Titel Die Affäre Heyde-Sawade wurde die Geschichte Heydes 1963 in der DDR verfilmt.
1965 stellte der Maler Gerhard Richter die Verhaftung Heydes in einem Ölgemälde dar. Nachdem sich das Bild 40 Jahre in Privatbesitz befunden hatte, wurde es am 15. November 2006 von Christie’s in New York versteigert. Das Werk wurde für 2 816 Mio. US-Dollar dem amerikanischen Kunsthändler Larry Gagosian zugeschlagen, der Schätzwert lag zwischen 2,0 und 3,0 Millionen US-Dollar.
Von den 22 Richtern, Staatsanwälten, Universitätsprofessoren, Ärzten und Beamten, denen - laut Liste des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses die Identität des Dr. Heyde mit dem Dr. Sawade bekannt war, hatten nur zwei Beamte unliebsame Vernehmungen zu erwarten.
Alle anderen Geheimnisträger, die wußten, daß der Obergutachter beim Schleswiger Landessozialgericht, Dr. Sawade, in Wirklichkeit der seit Jahren von der Staatsanwaltschaft Würzburg gesuchte Professor Dr. Werner Heyde war, blieben nahezu unbehelligt.
Als Sündenböcke unter den 22 Mitwissern blieben übrig:
der vorzeitig pensionierte Präsident des Schleswiger Landessozialgerichts, Dr. Ernst-Siegfried Buresch, und
der frühere Erste Staatsanwalt in Flensburg und, vorläufig beurlaubte Leitende Regierungsdirektor im Wehrbereich I (Kiel), Dr. Bruno Bourwieg.
Gegen Buresch wurde bereits im Februar 1960, gegen Bourwieg im März 1961 Anklage wegen Begünstigung im Amt erhoben, ohne daß es bis heute zum Prozeß gekommen wäre. Gegen den 61jährigen Pensionär Buresch hat die Erste Große Strafkammer des Landgerichts in Flensburg ein Verfahren aus "tatsächlichen und rechtlichen Gründen" abgelehnt, weil "für Richter keine Pflicht besteht, verübte Vergehen und Verbrechen anzuzeigen".
Im Januar 1961 entschied dann das Oberlandesgericht in Schleswig, dem elf Monate vorher amtsenthobenen Präsidenten sei nun doch der Prozeß zu machen - freilich erst, wenn im Heyde -Prozeß nachgewiesen worden sei, daß Hauptmitwisser Buresch den Euthanasie-Professor tatsächlich begünstigt habe. Dieselbe Schonfrist wurde dem Dr. Bourwieg gewährt, der von Buresch erfahren hatte, wer Sawade wirklich ist, sich aber zu keiner Amtshandlung entschließen konnte.
Zu den davongekommenen Staatsdienern gehören
der Senatspräsident des Landessozialgerichts in Schleswig, Richard Michaelis, der wußte, daß Sawade einen falschen Namen trug, ihn aber trotzdem als Gutachter beschäftigte; dem Präsidenten, der nach zeitweiliger Beurlaubung wieder sein hohes Amt übernehmen durfte, wurde als "Strafe" lediglich das Gehalt für 24 Monate um zehn Prozent gekürzt;
der Landessozialgerichtsrat Dr. Max Meinicke-Pusch, der zwar dem Präsidenten Michaelis, nicht aber der Staatsanwaltschaft meldete, daß der Name Sawade falsch war; Meinicke-Pusch erhielt lediglich einen Verweis;
der Sozialgerichtsdirektor Hartmut Gerstenhauer und die Sozialgerichtsrätin Maria Stumpf, die beide von der Personen-Identität Heyde/Sawade wußten, nichtsdestoweniger aber ungerügt blieben;
der Landgerichtsrat Schlüter, der im Sommer 1945 Stubenkamerad Heydes im dänischen Internierungslager Faarhus war und, ihn 1953 als Dr. Sawade wiedertraf, dem aber in einem Ermittlungsverfahren "keine Verfehlung nachgewiesen werden konnte";
der Flensburger Oberstaatsanwalt Biermann, dem eine Anzeige gegen Heyde vorlag, der aber vergaß, ins Fahndungsbuch zu blicken - er wurde in einem Disziplinarverfahren freigesprochen, und
der Leiter des schleswig-holsteinischen Landesgesundheitsamtes in Kiel, der Ministerialrat Hans Heigl, der von Heydes Tarnnamen amtlich Kenntnis erhielt; die Kieler Strafkammer lehnte es ab, ein Verfahren gegen Heigl zu eröffnen, weil für ihn "keine Rechtspflicht zu handeln" bestanden habe.
Auch die Reputation des ebenfalls in die Heyde-Affäre verwickelten Generalstaatsanwaltes Dr. Adolf Voß erlitt keine nennenswerte Einbuße: Der vorzeitig pensionierte Voß amtiert weiter als Präsident der Synode der schleswigholsteinischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche.
Voß hatte sich 1960 in seiner Wohnung mit Buresch über den heiklen Fall Heyde ausgesprochen und seinen Gast über die Aussagen Meinicke-Puschs vor dem Untersuchungsausschuß informiert. Buresch erlitt auf Vossens Toilette einen Herzanfall, und auch Voß litt in der Folgezeit. Der "gute Voß" ("Die Zeit") fühlt sich, jedoch inzwischen wieder kregel. Der Schleswiger Bischof D. Wester hat für ihn gebetet.
Wester hatte über den Generalstaatsanwalt, der sogar der Mitwisserschaft im Fall Heyde/Sawade verdächtigt worden war, öffentlich verkündet: "Der Schatten, der über dem Namen von Dr. Voß in letzter Zeit lag, wird immer mehr weichen. Sein Name wird makellos sein. Wir hoffen, daß er am Herzen wieder ganz fröhlich wird und bitten Gott, daß er vor den Augen der Welt offenbaren möge, was Rechtens ist."
Voß braucht keinerlei Unbill mehr zu befürchten, genausowenig wie die vor den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß zitierten Mitwisser, unter ihnen der Bundesrichter am Bundessozialgericht in Kassel, Dr. Sonnenberg, und die Professoren Doerr, Reinwein, Hallermann (Universität Kiel) und Glatzel (Max-Planck-Institut, Dortmund).
Im Zusammenhang, mit dem Fall Heyde wurde überhaupt nur ein schmerzhaftes Urteil gefällt: gegen den Chefreporter der linksliberalen "Frankfurter Rundschau", Volkmar Hoffmann.
Hoffmann hatte am 20. November 1959 in seiner Zeitung geschrieben: "Selbst Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) und Kultusminister Odo Osterloh (CDU) - oder gar das ganze Kabinett? - wußten seit mehreren Monaten, daß sich unter dem Namen Dr. Sawade der steckbrieflich gesuchte Euthanasiearzt und SS-Standartenführer Professor Werner Heyde verbarg, ohne sofortigen Eingriff für nötig zu halten."
Der Reporter wurde daraufhin wegen "politisch übler Nachrede" zu sechs Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt.